Weg mit dem Nazi-Paragrafen!

Hi ihr beiden! Das Bündnis gibt es ja nun schon eine Weile. Aber wie hat das alles eigentlich angefangen?

Johanna: Das Bündnis hat sich im Dezember 2017 gegründet. Das Interesse war von Anfang an sehr groß, und inzwischen haben wir über 20 unterstützende Organisationen, darunter LINKE, SPD und Grüne, SDS, linksjugend solid, Jusos und Kaktus, Gewerkschaften, Beratungsstellen, Hochschulgruppen und weitere zivilgesellschaftliche und feministische Vereine.Das Motiv für die Gründung war vor allem, einen großen, breit aufgestellten Protest gegen den 1000-Kreuze-Marsch zu organisieren. In den Jahren vor 2018 hatte es zwar immer wieder kreative und laute Gegendemos aus der linken Szene gegeben, aber ein Großteil der Stadtgesellschaft blieb zu diesem Thema still. Das hat uns gestört, denn das Thema Schwangerschaftsabbruch betrifft uns fast alle auf die ein oder andere Weise. Im Schnitt entscheidet sich jede vierte Frau einmal im Leben eine Schwangerschaft nicht fortzusetzen. Dennoch ist das Thema extrem tabuisiert. Allzu oft bestimmt hier eine kleine Minderheit die Debatte, deren Haltung auf religiösem Fundamentalismus und rechter Ideologie beruht. Das ist ja auch bei den Teilnehmer*innen des 1000-Kreuze-Marsches der Fall.

Das klingt ja wirklich sehr krude! Was steckt denn hinter diesem 1000 Kreuze-Marsch, gegen den ihr protestiert? Was sind ihre Ziele?

Eva: Der 1000 Kreuze-Marsch ist eine Demonstration, die seit 2003 immer im März in Münster stattfindet. Die Veranstalter bezeich- nen sich selbst als einen Gebetszug, was aus unserer Sicht zynisch ist, denn der Marsch hat eine konkrete politische Forderung: Die Teilnehmer*innen wollen ungewollt Schwangeren verbieten ihre Schwangerschaft abzubrechen. Sie brandmarken Abtreibungen als moralisch verwerflich und beschimpfen so- wohl Betroffene als auch Ärzt*innen, die die Eingriffe durchführen, als Mörder*innen. Organisiert wird das ganze inzwischen vom in München ansässigen Netzwerk ‚EuroProLife‘, einem der wichtigsten Vertreter der selbsternannten ‚Pro-Life‘- oder ‚Lebensschutzbewegung‘. Auch diese Bezeichnung finden wir zynisch, denn auf Veranstaltungen der Seebrücke oder im Engagement gegen oftmals tödliche Gewalt an Minderheiten findet man diese Leute selten. Stattdessen geht es ihnen gerade da um Lebensschutz, wo das Selbstbestimmungsrecht von Schwangeren eingeschränkt werden soll.

Dass jedes Jahr weltweit zehntausende ungewollt Schwangere an den Folgen eines unsicheren Abbruchs sterben, interessiert sie offenbar auch nicht.

Johanna: Genau, und das zeigt, dass es ihnen eigentlich gar nicht um den Schutz irgendwelchen Lebens geht, sondern hinter ihren Aktionen eine frauenfeindliche und autoritäre Agenda steht. Die Anti-Choice-Be- wegung ist aber auch über die Abtreibungs- frage hinaus reaktionär: Sie ist gegen die Ehe für alle, gegen Trans-Rechte, oft sogar gegen Verhütung und Sexualaufklärung. Außerdem gibt es Überschneidungen mit der extremen Rechten: Auf dem 1000-Kreuze-Marsch und anderen Veranstaltungen der Anti-Choice-Bewegung sieht man Vertreter der AfD, der Jungen Alternative und der Identitären Bewegung, auch NPD-Leute sind schon mitgelaufen. Dort verbindet sich dann die Gegnerschaft gegen körperliche Selbstbestimmung mit völkischer Ideologie und pronatalistischer Bevölkerungspolitik.

Also viele gute Gründe um auf die Straße zu gehen. Aber was genau plant ihr denn am 21. März? Wie wird euer Protest aussehen?

Johanna: Am Tag des Marsches, am 21. März, organisieren wir eine Demonstration und eine Kundgebung. Start ist um 13:30 Uhr am Hauptbahnhof. Von dort aus ziehen wir mit unseren Unterstützer*innen lautstark und entschlossen durch die Stadt. Um 14:30 Uhr kommen wir dann am Prinzipalmarkt an, wo es von einer Bühne aus Redebeiträge unserer Bündnisunterstützer*innen und Musik geben wird. Einige Organisationen, z.B. ProFamilia, sind auch mit kleinen Ständen vertreten, an denen man sich zum Thema Schwangerschaftsabbruch und zu feministischen Themen informieren kann. So wie in den letzten Jahren läuft irgendwann der 1000-Kreuze-Marsch an unserer Kundgebung vorbei – dann wollen wir ihnen natürlich zeigen, dass wir mit einer Mehrheit der Bevölkerung für sexuelle Selbstbestimmung einstehen.

Eva: Wir möchten mit unserem Protest ein buntes und selbstbewusstes Zeichen setzen für sexuelle Selbstbestimmung und das Recht auf einen legalen und sicheren Schwangerschaftsabbruch. Uns ist es wichtig, Menschen aus verschiedenen Milieus und jeden Geschlechts zusammenzubringen, weil feministische Politik uns alle angeht. Das Leitmotto des Berliner Bündnisses gilt auch für uns: „Wir wollen leben und lieben ohne Bevormundung!“. Das betrifft nicht nur die Frage des Schwangerschaftsabbruchs, sondern auch Fragen der geschlechtlichen Identität, der sexuellen Orientierung und der Lebensform, die wir für uns wählen.

Was macht ihr, wenn ihr gerade nicht eure jährliche Demo vorbereitet? Wofür setzt sich das Bündnis über die Proteste hinaus ein?

Eva: Neben der Organisation der Gegenproteste haben wir uns in den letzten zwei Jahren mit einigen Veranstaltungen an der Kampagne gegen den §219a beteiligt, der es Ärzt*innen verbietet, darüber zu informieren, dass und wie sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Von dem faulen Kompromiss, auf den sich die GroKo vor einem Jahr geeinigt hat, waren wir sehr enttäuscht. Über die öffentliche Diskussion, die auch der wachsenden Pro-Choice-Bewegung geschuldet ist, ist das Thema aber wieder ins Bewusstsein vieler Menschen gerückt. Das ist erst einmal ein Erfolg. Unsere Forderungen beschränken sich aber nicht nur auf den §219a, sondern wir wollen, dass der Schwangerschaftsabbruch nicht mehr im Strafgesetzbuch geregelt wird. Dass Abtreibungen in unmittelbarer Nähe zu Mord und Totschlag im Gesetzbuch stehen, trägt zur ihrer anhaltenden Stigmatisierung bei.

Johanna: Ein anderes Thema, das von der rechtlichen Frage allerdings nicht zu trennen ist, ist die bestehende oder drohende Mangelversorgung. In vielen Regionen Deutschlands gibt es nicht genug Ärzt*innen, die Abbrüche durchführen, so dass Betroffene zum Teil lange Wegstrecken auf sich nehmen müssen. Das ist sowohl finanziell als auch emotional belastend. Auch hier in Münster ist das ein ganz akutes Thema: Als vor zwei Jahren der letzte Arzt, der in Münster Abbrüche vorgenommen hat, in Rente ging, standen wir kurzzeitig vor der Situation, dass es niemanden mehr gab, der diese Leistung anbietet. Und das in einer Stadt mit 300.000 Einwohner*innen! Inzwischen hat sich die Lage glücklicherweise wieder etwas entspannt, sie bleibt aber prekär. Laut der neuen Gesetzeslage soll die Bundesärztekammer eine öffentliche Liste führen, welche Praxen und Einrichtungen Abbrüche vornehmen. Darin ist jedoch zur Zeit keine Adresse in Münster aufgeführt, denn die Aufnahme in die Liste ist freiwillig. Ärzt*innen müssen befürchten, in der Öffentlichkeit, angefeindet und verleumdet zu werden. Deshalb trauen viele sich nicht, sich auf die Liste setzen zu lassen.

Klingt, als würde die bestehende Rechtslage Organisationen wie Euro-Pro-Life in die Hände spielen. Was können wir dem entgegensetzen?

Eva: Für uns hängen viele dieser Problemlagen mit der immer noch existierenden Stigmatisierung des Abbruchs in der Gesellschaft zusammen. Mit unserer Öffentlichkeitsarbeit versuchen wir gerade da anzusetzen und einen Raum zu schaffen, in dem über dieses Tabu offen gesprochen werden kann. Unsere Forderungen hören aber nicht beim Schwangerschaftsabbruch auf, sondern wir treten auch für andere Aspekte sexueller Selbstbestimmung ein, z.B. kostenlose Verhütungsmittel und eine umfassende und inklusive Sexualaufklärung, außerdem finanzielle Absicherung für alle Schwangeren, ob sie nun einen Schwangerschaftsabbruch wollen oder nicht.

Johanna: Zu unserem Selbstverständnis als feministisches Bündnis gehört außerdem eine antifaschistische Ausrichtung. Nicht nur wegen den Überschneidungen zwischen Anti-Choice-Bewegung und rechter Politik. Wir sind der Überzeugung, dass feministisches Engagement sich mit anderen gesellschaftlichen Gruppen solidarisieren muss, die aufgrund von Geschlecht, sexueller, religiöser oder ethnischer Identität diskriminiert und ausgegrenzt werden.

Wie geht es weiter mit dem Bündnis? Gibt es neue Projekte, an denen ihr arbeitet?

Eva: Neben den Planungen für den Protest am 21. März sind wir gerade verstärkt in die bundesweite Vernetzung involviert. Seit der großen medialen Debatte um den §219a und Kristina Hänels Verurteilung haben sich überall in Deutschland Pro-Choice-Gruppen gegründet. Das ist eine echte Wiederbelebung der Bewegung, die nach der Einigung auf die jetzige gesetzliche Regelung Anfang der 90er Jahre ziemlich eingeschlafen war. Vor allem das Berliner Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung hat eine echte Vorreiterrolle eingenommen, aber auch in Göttingen, Hamburg und in Süddeutschland gibt es tolle Aktivist*innen, die eine Menge Aktionen realisieren.

Ihr stellt wirklich einiges auf die Beine! Was kann man tun um euch zu unterstützen?

Johanna: Es gibt viele Wege uns zu unterstützen. Sehr wichtig ist natürlich am 21. März mit uns auf die Straße zu gehen! Alle Infos über uns und was wir machen, erhaltet ihr, wenn ihr uns auf Facebook, Instagram oder Twitter folgt. Darüber hinaus sind unsere Bündnistreffen offen für alle, die tiefer einsteigen und Aktionen mit uns vorbereiten wollen. Eva: Neben politischen Aktionen, ist aber auch ganz wichtig, sich über das Thema Schwangerschaftsabbruch und selbstbestimmte Sexualität zu informieren und mit Freund*innen und Bekannten offen darüber zu sprechen. Das trägt dazu bei, die Tabus zu brechen! Gute Informationen bietet zum Beispiel Pro Familia.

Vielen Dank für das Interview!